Europäisches Statistisches System und Internationale Zusammenarbeit












6.3 Gesetzliche Grundlagen der europäischen Statistik (2/5)

Die EU-Statistikverordnung
Die explosionsartige Zunahme von Aufgaben für die europäische Statistik in den 90er-Jahren hatte zu dem Wunsch nach einer rechtlichen Fixierung der bis dahin durch informelle Absprachen zwischen den Amtsleitern der Mitgliedstaaten und Eurostat geprägten (und durch die Mehrjahresprogramme gesteuerten) Zusammenarbeit der Partner geführt. 1997 kam es deshalb zum Erlass einer EU-Statistikverordnung, die man auch als das „Europäische Statistikgesetz“ bezeichnen kann. Dieses stellt auf europäischer Ebene das Pendant zum deutschen Bundesstatistikgesetz dar.
Die Verordnung wurde zuletzt im Jahr 2015 umfangreich reformiert (durch Verordnung 2015/759 vom 29. April 2015). Sie bildet den rechtlichen Rahmen für die Koordinierung der Entwicklung, Erstellung und Verbreitung europäischer Statistiken und legt die Prinzipien der Zusammenarbeit innerhalb des ESS fest.
Europäische Statistiken
Es war das Verdienst der EU-Statistikverordnung, den Begriff „Europäische Statistiken“ erstmals zu definieren.
Nach Artikel 1 der EU-Statistikverordnung handelt es sich bei europäischen Statistiken um diejenigen Statistiken, die die Gemeinschaft für ihre Tätigkeiten benötigt und die im Statistischen Mehrjahresprogramm umrissen werden.
Wichtige Inhalte der EU-Statistikverordnung
Die Grafik zeigt unter "Definition Europäisches Statistisches System" und "Definition Europäische Statistiken" die wichtigsten Bestimmungen der EU-Statistikverordnung: "Leiter der nationalen statistischen Ämter und Generaldirektor von Eurostat", "Jahres- und Mehrjahresprogramme", "Governance", "Kooperationsnetze und Europäischer Ansatz für die Statistik", "Qualität", "Zugang zu Verwaltungsdaten", "Statistische Geheimhaltung" und "Verbreitung".
Die EU-Statistikverordnung enthält neben der Definition des Europäischen Statistischen Systems und der Europäischen Statistiken eine Reihe wichtiger Bestimmungen:
  • Professionelle Unabhängigkeit der Leiter der nationalen statistischen Ämter ... mehr
Die Rolle der Leiter der nationalen statistischen Ämter und insbesondere ihre professionelle Unabhängigkeit wird gestärkt (Art. 5a): Sie sind allein für die Entscheidungen über Prozesse, statistische Methoden, Standards und Verfahren sowie über Inhalt und Zeitplan der Veröffentlichungen für alle vom jeweiligen Amt entwickelten, erstellten und verbreiteten europäischen Statistiken verantwortlich. Außerdem dürfen die Leiter keine Weisungen entgegennehmen, ihre Ernennung muss transparent sein und auf fachlichen Kriterien beruhen.
Ähnlich werden Regelungen für die Unabhängigkeit des Generaldirektors von Eurostat getroffen (Art. 6a).
Neu ist die Einführung eines sogenannten „Statistischen Dialogs“ mit dem Europäischen Parlament, in dem Angelegenheiten der statistischen Steuerung ("Governance"), der Methodik und der statistischen Innovation auf jährlicher Basis erörtert werden.
  • Jahres- und Mehrjahresprogramme ... mehr
Sie sind die Grundlage für alle statistischen Arbeiten auf europäischer Ebene.
Im Rahmen der so genannten Governance des Europäischen Statistischen Systems ist vor allem der AESS hervorzuheben, in dem die Amtsleitungen der Statistikämter vertreten sind.
Bei der Koordinierung der Entwicklung, Erstellung und Verbreitung europäischer Statistiken erkennt die EU-Statistikverordnung den Statistikämtern auf nationaler Ebene eine besondere Koordinierungsrolle zu. Diese wird mit der letzten Revision der EU-Statistikverordnung in Art. 5 klarer definiert und gestärkt: Als einzige Kontaktstelle in den Mitgliedstaaten sind die nationalen Statistikämter dafür zuständig, die statistische Planung und Berichterstattung, Qualitätskontrolle, Methodik, Datenübermittlung und Kommunikation zu statistischen Tätigkeiten im ESS zu koordinieren. Eurostat kommt die gleiche Koordinierungsrolle auf europäischer Ebene zu.
  • Kooperationsnetze und Europäischer Ansatz für die Statistik ... mehr
Kooperationsnetze der Mitgliedstaaten, in denen Fachwissen und Ergebnisse ausgetauscht oder spezielle Aufgaben gelöst werden, schaffen Synergieeffekte. Die Ergebnisse dieser Maßnahmen, die von der EU-Kommission (teil)finanziert werden, werden dem gesamten ESS zur Verfügung gestellt. Der so genannte Europäische Ansatz für die Statistik sieht vor, dass in besonders begründeten Fällen aggregierte europäische Ergebnisse veröffentlicht werden, auch wenn nicht alle Mitgliedstaaten Ergebnisse auf nationaler Ebene veröffentlichen (sei es aus methodischen oder Geheimhaltungsgründen). Hierbei kann es sein, dass unveröffentlichte einzelstaatliche Daten oder nur Daten von einzelnen Mitgliedstaaten in das Aggregat einbezogen werden. Es werden u. a. spezielle Verfahren der Geheimhaltung angewandt, die keine Offenlegung von statistischen Daten auf nationaler Ebene erlauben.
Ein eigener „Qualitätsartikel“ (Art. 12) trifft Regelungen zur Qualität der Statistik. Wichtige Kriterien sind u. a. Relevanz, Genauigkeit, Aktualität, Vergleichbarkeit und Kohärenz der Daten. Die revidierte Statistikverordnung enthält einige Neuerungen: Eurostat kann seine Einschätzung zur Qualität der Beiträge aus den Mitgliedstaaten zu europäischen Statistiken öffentlich bekannt geben. Außerdem erhält die Kommission die Kompetenz, Ermittlungen einzuleiten, durchzuführen und sogar Prüfungen vor Ort vorzunehmen, wenn ein Mitgliedstaat statistische Daten falsch darstellt.
Um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die europäische Statistik zu gewährleisten, hebt die Verordnung den Code of Practice (Art. 11) hervor, einen Verhaltenskodex, den sich die Statistiker auf europäischer Ebene auferlegt haben. Als wichtige Grundsätze der Statistikerstellung werden – ähnlich wie auf nationaler Ebene – fachliche Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Objektivität, Zuverlässigkeit, Statistische Geheimhaltung und Kostenwirksamkeit definiert.
Die revidierte Verordnung führt nun in Art. 11 auch sogenannte „Verpflichtungen für zuverlässige Statistiken“ („Commitments on Confidence in Statistics“) ein. Mit der Unterzeichnung dieser Verpflichtungen bekennen sich die Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Verhaltenskodex für Europäische Statistiken. Die Kommission überwacht den Umsetzungsprozess. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat dagegen, diese Verpflichtungen einzugehen, muss er mindestens alle zwei Jahre einen Sachstandsbericht über die Umsetzung des Verhaltenskodex und die getroffenen Maßnahmen an die Kommission übermitteln.
Mit der Änderungsverordnung wird der Rechtsrahmen für den Zugang zu Verwaltungsdaten für die Erstellung europäischer Statistiken verbessert (Art. 17a). Eurostat, den nationalen statistischen Ämtern und den anderen einzelstaatlichen Stellen muss durch die Verwaltungsstellen u. a. ein unverzüglicher, kostenfreier Zugang gewährt werden. Diese müssen auch Metadaten bereitstellen.
Um sicherzustellen, dass vertrauliche Daten ausschließlich für statistische Zwecke verwendet werden, enthält die EU-Statistikverordnung umfangreiche Regelungen zur Statistischen Geheimhaltung.
Die Verbreitung europäischer Statistiken erfolgt in Übereinstimmung mit den statistischen Grundsätzen, insbesondere unter Wahrung der statistischen Geheimhaltung und der Gewährleistung des gleichberechtigten Zugangs aller Nutzer zu den Daten.
Zur Umsetzung der einzelnen Regelungen der neuen EU-Statistikverordnung – insbesondere der künftigen erweiterten Koordinierungsfunktion – hat Eurostat eine Task Force eingerichtet, in deren Diskussionen sich das Statistische Bundesamt einbringt.
Neben der EU-Statistikverordnung als „Rahmenverordnung“ gibt es im Sekundärrecht der EU eine Vielzahl von Statistikrechtsakten auf europäischer Ebene, die die Produktion einzelner Statistiken (wie beispielsweise Preisstatistik oder Konjunkturstatistiken) regeln. In der amtlichen Statistik sind dies meistens Verordnungen, seltener Richtlinien.

Sekundärrecht


Das Sekundärrecht (vom Primärrecht abgeleitetes Recht) sind die auf Grundlage des Primärrechts von den Organen der Europäischen Union oder der Europäischen Atomgemeinschaft erlassenen Rechtsakte. Art. 288 AEUV sieht folgende Rechtsakte vor:
  • Verordnung (allgemeine Regelung mit unmittelbarer innerstaatlicher Geltung; entspräche im deutschen Recht einem Gesetz)
  • Richtlinie (allgemeine Regelung, die von den Mitgliedstaaten innerhalb einer bestimmten Frist in staatliches Recht umzusetzen ist; sie ist hinsichtlich des Zieles verbindlich, überlässt den Mitgliedstaaten jedoch die Wahl der Form und der Mittel)
  • Beschlüsse (verbindliche Regelung im Einzelfall; ein Beschluss ist nur für die darin bezeichneten Adressaten verbindlich; entspräche im staatlichen Recht einem Verwaltungsakt)
  • Empfehlungen und Stellungnahmen (rechtlich nicht verbindlich)
Materialien zum Download und Weblinks